Hänsel & Gretel – Notwehr oder doch Vorsatz
Organisiert von ELSA Hannover und dem Lehrstuhl unseres Beirates Prof. Ziemann
Hänsel und Gretel, eines der bekanntesten Märchen der Welt. In vielen Sprachen übersetzt und inzwischen schon zum zweiten Mal an der Leibniz Universität Hannover verhandelt. Angeklagt ist jedoch nicht etwa die Hexe, sondern Hänsel und seine Schwester Gretel, u. a. wegen Sachbeschädigung, Diebstahl, schwerer Körperverletzung und sogar versuchten Mordes.
Nach umfangreichem Plädoyer der Staatsanwaltschaft sowie der Verteidigung, beginnt der Richter Ziemann, Vorsitzender des Märchengerichts, mit der Beweisaufnahme. Die Geschädigte, Frau Blocksberg, welche durch den Stoß in den Ofen schwerste Brandverletzungen erlitten hat, wird in den Zeugenstand gebeten und vereidigt. Die missverstandene Führsorge der Hexe Blocksberg zur Versorgung der unterernährten Kinder Hänsel und Gretel auf der einen Seite, steht die Freiheitsberaubung und die Misshandlungen eben jener Schutzbefohlenen entgegen. Dabei wird geklärt: „Sind Hexen überhaupt Menschen?“ und „Zählen Kinder zu deren Grundnahrung?“. Für die Kommilitonen des 3. und 5. Semesters gilt im Prozess zu klären, was wirklich in dem Haus vorgefallen ist und woher der gefundene ominöse Knochen im Käfig kommt. Auffallend: Immer wieder wird der Vogel der Hexe Blocksberg erwähnt, welcher letztlich die Polizei alarmierte.
Die Kinder selbst in den Zeugenstand geladen, erzählen sie von ihrer schwierigen Kindheit, sowie ihren Erlebnissen im Hexenhaus. Dabei leugnen die Kinder die Straftaten per se nicht. Der Plan der Verteidigung: Sich auf Notwehr gem. § 32 Abs. 1 StGB stützen. Unterbrochen wurden die Ausführungen der Sprösslinge von Zwischenrufen wie „Diesen Kleinkriminellen darf man doch keinen Glauben schenken!“. Die Verhandlung ist im vollen Gange. Staatsanwaltschaft und Verteidigung nehmen die Kinder ins Kreuzverhör. Dabei liest ihnen die Jury jedes Wort von den Lippen ab, was aufgrund der schwierigen Akustik im 14. Stock stellenweise auch notwendig ist.
Die Jugendlichen werden aus dem Zeugenstand entlassen und der Polizeikommissar Herr Kinderschreck betritt den Gerichtssaal. Das Führungszeugnis von Hänsel und Gretel wird herangezogen, welches zum Vorteil der Angeklagten keine Einträge aufweist. Der Polizeibeamte schildert, wie er am Hexenhäuschen eintraf und die Geschädigte unter Schmerzschreien im Ofen vorgefunden habe. Dabei wird das Vernehmungsprotokoll verlesen, in welchem die Kinder geäußert haben sollen: „Endlich brennt die Hexe, endlich haben wir es geschafft!“. Für die Staatsanwaltschaft ein gefundener Beweis- die Verteidigung gerät derweil ins Straucheln.
In die Beweisführung flossen weiter Gutachten des Herrn Merlin Hexus ein, aus dem hervorgeht, dass Hexen existieren und sie zur Energieerhaltung Kinder verspeisen, sowie ein Gutachten des Herrn Dr. Medicus, der die Unterernährung und Verwirrtheit der Kinder bescheinigte. Abgerundet wurde diese Beweisführung mit einem Gutachten des Herrn Holz über den Zustand der Ofentür, welche wohl dermaßen in die Jahre gekommen war, dass ein Entkommen der Hexe aus eben jenem geradezu vorprogrammiert erschien.
Die Stiefmutter, Frau Holzhacker, löst den Kommissar im Zeugenstand ab und berichtet zunächst über die Kindheit ihrer Schützlinge. So seien sie durch die Inflation in eine wirtschaftliche Schieflage geraten, was sich auch im aufsässigen Verhalten der Beiden geäußert hat. Die Staatsanwaltschaft versucht hier die mitgenommenen Edelsteine aus dem Hexenhäuschen ins Spiel zu bringen. Die Verteidigung wiederum stützt sich auf die Aussage der Zeugin, fühlt sich in der sozialen Beeinflussung der Angeklagten bestätigt und macht im Prozess wieder Boden gut. Auf die Frage der Verteidigung, weshalb die Stiefmutter die Kinder überhaupt in den Wald lockte und alleine ließ, verweigerte sie die Aussage und beruft sich dabei auf § 136 StPO, das Recht sich nicht selbst belasten zu müssen.
Herr Vogel landet auf dem Zeugenstuhl und berichtet, wie er durch die Schreie der Hexe auf sie aufmerksam wurde und daraufhin die Polizei alarmierte. Die „vöglerischen“ Wahrnehmungen zum Tatgeschehen des Herrn Vogel werden jedoch angezweifelt. Zuletzt wird Frau Katze, das Haustier der Hexe, geladen. Dabei macht diese die spannende Aussage, dass bereits mehrmals Kinder im Haus der Hexe zu Besuch waren, dessen Verbleib bisher ungeklärt ist.
Die anfänglichen Proteste aus dem Zuschauerraum gipfeln im Aufstand einer Hexenbefürworterin, welche sich seit Jahren gegen die Ungleichbehandlung der Fabelwesen einsetzen. Plakat und entsprechende Sprachgesänge inbegriffen. Der Gerichtsdiener macht dabei kurzen Prozess und eskortiert den Störenfried unter Lachen der fast 100 Zuschauer aus dem Gerichtssaal.
Der Verfahrensstand scheint zu Verworren. Die Hexe wird nochmals verhört, verstrickt sich dabei letztendlich in Widersprüche und äußert unbedacht, die Kinder, die zuvor bei ihr zu Besuch waren, seien „jetzt an einem besseren Ort“. Der Richter schließt die Beweisaufnahme und unterbricht die Verhandlung für 15 Minuten.
Die Schlussplädoyers erschallen durch den Gerichtssaal. Die Zuschauer und die Jury lauschen den finalen Worten dieser Verhandlung. Die Staatsanwaltschaft sieht sich in ihren Anklagepunkten bestätigt und beantragt die Verurteilung der angeklagten Kinder. Die Verteidigung stellt auf den Schutz der Kinder und deren Leid unter der Herrschaft der Hexe ab. Schließlich habe die Hexe mehrfach von Kinderspeck geschwärmt, laut der Zeugenaussage von Frau Katze. Die Verteidigung bleibt von den Ausführungen der Staatsanwaltschaft unbeeindruckt und beantragt den Freispruch der Kinder. Hänsel und Gretel haben das letzte Wort und betonen ihre Todesangst in dieser Situation. Schlussendlich ziehen sich die Geschworenen nach der ca. zweistündigen Verhandlung zur Beratung zurück.
Das Urteil lautet: 6 Stimmen für eine Verurteilung und 14 für einen Freispruch der Kinder. Die Kosten des Verfahrens werden der märchenhaften Staatskasse auferlegt.
Im Nachgespräch mit den ca. 15 Teilnehmern des ELSA Märchen Moot Courts wird deutlich, wieviel Spaß die Parteien in der Vorbereitung und auch der Verhandlung an sich hatten. So habe die Staatsanwaltschaft so viel Druck gemacht, dass die Verteidigung wirklich fokussiert in ihrer Struktur bleiben musste. Die Authentizität der einzelnen Rollen wurde durch das jeweils passende Kostüm unterstrichen und auch die Zuschauer konnte die Kälte des Märchenwaldes am eigenen Körper spüren. Es eröffnete sich für die Zuschauer eine surreale Welt zwischen der jungen Staatsanwaltschaft mit Robe und Macbook auf der einen sowie Fabelwesen und verängstigten Kindern auf der anderen Seite. Alles unter der Leitung eines Vorsitzenden mit weißer Richter-Perücke. Es bleibt abzuwarten, welch märchenhafter Prozess uns im nächsten Jahr erwartet. Sollte man nicht selbst im Gerichtssaal auftreten wollen, empfiehlt sich ein Platz im Zuschauerraum allemal!
Verfasst von Simon Weber (Hannover Law Review)